Mystik

Franz von Assisi

 

Umgangssprachlich wird das Wort "Mystik" oft für etwas Mysteriöses, manchmal sogar für etwas Unheimliches verwendet, das sich dem rationalen Verstand nicht erschließt.

 

Der heutigen Sichtweise entsprechend versteht man unter Mystik das unmittelbare Erfahren einer höheren Welt, in besonderen Fällen das Erfahren des Göttlichen. Diese Fähigkeit kann nicht durch eigenen Willen oder durch Übung erworben werden. Sie ist ausschließlich ein göttliches Geschenk.

 

Buchauszug:

 

"Das Wesen der Mystik besteht darin, daß der Mensch bewußte Fühlung mit Gott erlebt und dabei Anteil am Leben Gottes gewinnt. Solch mystisches Erleben, bei dem der Mensch sich untrüglich bewußt ist, in unmittelbarer Berührung mit Gott zu stehen, ist etwas ganz Ungewöhnliches. Denn seiner äußeren Natur nach gehört ja der Mensch der Erdenwelt an, die in unvereinbarem Gegensatz zu Gott steht. Die durchaus ungöttliche natürliche Welt hat daher auch allgemein für die Mystik kein Verständnis.

 

Der zum Mystiker berufene einzelne Mensch bekommt mit jedem hohen Erleben Zutritt in eine vollkommene Welt des Friedens, der Harmonie und Schönheit, und an den Höhepunkten der Gotteinung erlebt er die höchste Glückseligkeit im Gefühl des heimatlichen Geborgenseins am Herzen des Vaters. Kehrt sein Bewußtsein zurück in den grauen Alltag, unserer Erdenwelt, die voller Missklang und allem Göttlich feindlich ist, so ist das für ihn ein Sturz von unbeschreiblicher Schmerzhaftigkeit; und versinkt er gar in die Tiefe gänzlicher innerer Verlassenheit, in die dunkle Nacht der Seele, die keinem Mystiker erspart bleibt, dann ist das ein Leiden von ganz unvorstellbarer Tiefe. Wo in dieser Weise in einem fühlenden Menschenherzen Gott und Welt als die gegensätzlichen Mächte einander begegnen, da muß es zu schwersten Leiden kommen.

 

Darum steht auch bei den christlichen Mystikern im Mittelpunkte ihres mystischen Lebens und Erlebens das Leiden. Sie gehen den Nachfolgeweg und sind voller Eifer, es dem Herrn auch gerade im Leiden nachzutun. Es war jedoch nicht bloße Nacheiferung, wenn die mittelalterlichen Mystiker das Leiden suchten; vielmehr trieb sie dazu auch das Gefühl, selber ihre Entwicklung um so wirksamer fördern zu können, je mehr Leiden sie auf sich nahmen. Ihre Sucht nach immer mehr Leiden ist für den natürlichen Menschen unverständlich und macht sie ihm als Kranke verdächtig. Denn kein natürliches Wesen will gern leiden. Es strebt vielmehr mit aller Macht danach aus dem Leiden herauszukommen oder ihm aus dem Wege zu gehen. Damit ist indessen die Leidensfrage für die Menschheit nicht zu lösen. Das Leid verfolgt den Menschen allenthalben, und er kann ihm nicht ausweichen, so gern er es möchte und so eifrig er auf Abhilfe sinnt. Das Leiden spielt offensichtlich eine überaus wichtige Rolle in dem Erziehungsplane, den Gott mit Seinen Geschöpfen und Kindern vorhat. Es ist der Stachel und die Peitsche, womit der Mensch immer wieder angetrieben wird, seine ihm verliehenen Fähigkeiten im Sinne einer aufwärtsstrebenden Entwicklung zu gebrauchen, ohne daß er dabei in der Wahlfreiheit seines Willensentschlusses beeinträchtigt würde. Wäre das Leid nicht in der Welt, so hätte der Mensch keinen Anlaß, mit seiner Lage unzufrieden zu sein und eine Verbesserung seiner Lebensumstände anzustreben.

 

Gehört also das Leiden unvermeidlich zum menschlichen Erdendasein, so erst recht zum Leben des Mystikers wie der Schatten zum Licht, der um so tiefer ist, je heller die Sonne strahlt. So kann auch dem Mystiker von heute das Leiden nicht erspart bleiben, wie ich in mehr als sechs Jahrzehnten Erdenweges bereits nur allzu fühlbar habe erfahren müssen.  ..."

 

Quelle: "Im Geistfeuer Gottes" von Carl Welkisch, Ausgabe 1957, Seite 1 ff.

 

 

Neben vielen anderen zählen zu den christlichen Mystikern Hildegard von Bingen, Franz von Assisi, Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Niklaus von Flüe, Franz von Sales, Theresa von Ávila, Johannes vom Kreuz, Jakob Böhme, Emanuel Swedenborg, Anna Katharina Emmerick, Anna Maria Taigi, Therese Neumann, Pater Pio, Käthe Pfirrmann und Carl Welkisch.

 

Mystiker kennt man in allen Religionen.

 

Zu erwähnen wäre, daß die Zuordnung zum Begriff des Mystikers letztlich auch im Auge des Betrachters liegt. Es geht ja hier nicht um ein Rechthaben. Möge uns das Herz zu einer immer tieferen innerlichen Ausrichtung auf die Liebe Gottvaters und Christi führen.

 

 

 

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